Ab Ende der sechziger Jahre begingen wir den jeweiligen Jahreswechsel mit Knall- und Feuerwerkskörpern. Zum Einsatz kamen Pfennigschwärmer, Knallfrösche und kleine China-Kracher. Mein Vater kaufte dazu rund ein Dutzend Raketen. Natürlich hatten alle Kinder in unserem Wohnblock den Wunsch, dass uns die Eltern mehr Raketen und Böller gekauft hätten. Von denen kam aber ein deutliches „Das reicht für uns aus!“ verbunden mit dem Hinweis, dass das ja alles viel Geld kosten würde.
Mit der Knallerei begannen wir kurz vor Mitternacht; die Raketen wurden unmittelbar nach dem Jahreswechsel durch meinen Vater gezündet. Gegen 0.20 Uhr war für uns dann Schluss mit allem. Ab 1 Uhr war es generell ruhig in den Straßen. An den Folgetagen machten wir Kinder immer das, wovor uns unsere Eltern ausdrücklich warnten. Wir begaben uns auf die Suche nach Feuerwerkskörpern, die nicht gezündet hatten. Einer von den Jungs hatte sich ein Feuerzeug besorgt und versuchte dann, den China-Kracher an der verkürzten Lunte anzuzünden.
Einmal hatte mein Vater, ich glaube es war zum Jahreswechsel 1974/1975, für unsere damaligen Verhältnisse recht viele Böller besorgt. Ein ganzer Schuhkarton war gefüllt mit Knallkörpern. Irgendwie geriet ein Funke in die Kiste, so dass nun alle Kracher nacheinander ungewollt explodierten. Das war meiner Familie zu heftig gewesen, so dass sich in den Folgejahren für uns die Knallerei erledigt hatte. Als Erwachsener kaufte ich mir später zu Silvester nur Raketen, und das in einer überschaubaren Anzahl. Letztmalig habe ich hierfür vor ca. 25 Jahren Geld ausgegeben.
Meine Großeltern blieben Silvester immer alleine. Sie verzichteten auf jegliche Knallerei zum Jahreswechsel. Offenbar war ihnen das alles zuwider. Hinzu kam, dass sie Geld nur für die wichtigen Dinge ihres Lebens ausgaben. Nein, geizig waren sie gewiss nicht. Aber sie waren immer darauf bedacht, genügend Reserven zu haben. Die von ihnen erlebten Kriege und Krisen, alles verbunden mit Hunger, Elend, Besitzlosigkeit, Krankheit, Ängste, Traumatisierungen u. a. hatten sie geprägt.
Ich frage mich aktuell, wie meine Eltern und Großeltern, lebten sie noch, das Silvestergeschehen 2022/2023 in den deutschen Städten einschließlich der ihnen vertrauten Berliner Bezirke Kreuzberg und Neukölln kommentieren würden. Was würden sie zu den Bildern des ungezügelten und lang andauernden Abfackelns von Feuerwerkskörpern und des Schießens mit Schreckschusswaffen sagen? Wie würden sie die vielen gezielten Angriffe auf Menschen mit den zur Verfügung stehenden Knallkörpern, die nicht mehr vergleichbar sind mit dem, was es in den sechziger und siebziger Jahren zu kaufen gab, bewerten? Was würden sie zu den bewussten Inbrandsetzungen von Mülltonnen, Autos, Bussen sowie der Inkaufnahme, dass auch Wohnungen in Brand geraten könnten, anmerken? Welche Worte fänden sie, wenn junge Männer in ein Mikrofon grölen, dass sie ja aus einem Kriegsgebiet nach Deutschland geflüchtet sind und lachend ergänzen, dass das jetzt so eine Art Heimatgefühl sei? Was ginge bei Vater, Mutter sowie den beiden Omas und Opas angesichts des dokumentierten Willens zur Verwüstung, den Angriffen auf Rettungskräfte sowie das Aufbrechen und Plündern von Feuerwehrfahrzeugen, alles offensichtlich freudvoll von den jungen Männern ausgeführt, vor?
In den Tagen nach dem vergangenen Jahreswechsel waren die Ausschreitungen in den Medien das bestimmende Thema. Politiker bis in die höchsten Spitzen des Staates fordern gerne nach einem Ereignis wie in der Silvesternacht 2022/2023 harte Strafen für die Täter. Strafrichter sind nicht an Machtworte und Appelle aus der Politik gebunden. Das sollten die politisch Verantwortlichen als Bestandteil der Gewaltenteilung wissen. Ansonsten fühlte ich mich bei den „klaren Ansagen“ der Politiker an einen meiner Vorgesetzten Ende der achtziger Jahre erinnert. Er ging kaum einem Konflikt aus dem Weg, war dabei aber nicht sonderlich durchsetzungsstark. Nach dem zweiten Platz in der jeweiligen Auseinandersetzung sagte er im vertrauten Kreis immer energisch: „Das macht der nicht noch einmal mit mir!“
Viele Diskussionsrunden, Expertengespräche, Kommentierungen, Befragungen usw. waren größtenteils Plattformen von Phrasen im gehobenen Sprachniveau. Es gab auch löbliche Ausnahmen; ich verzichte an dieser Stelle aber auf die Nennung von Namen und Sendungen. Meist hingegen waren bekannte Erklärungsrituale zu vernehmen. Tja, die Toleranz wächst eben mit dem Abstand zum Problem. Erträglich erschienen mir vielfach nur die Sprechpausen. Brachte jemand eigentlich Empathie für die vielen Verletzten und Opfer der Beschädigungen auf? Welche Entwicklung wird eine Gesellschaft nehmen, in der Bevölkerungsteile mit einem hohen Spaßfaktor eine derartige auf das Gemeinwesen gerichtete Zerstörungskraft entfalten? Befinden wir uns in einer Spirale der kulturellen Verwahrlosung, in der ein nichtiger Anlass für neue Gewaltexzesse ausreicht? Meine Oma väterlicherseits hätte das alles vermutlich mit dem Satz „Es ist meist die gebende Hand, die als erstes gebissen wird.“ kommentiert.
Ich habe bei den ganzen Analysen zu den Ausschreitungen kein einziges Mal die Frage vernommen, wie es kommt, dass in den nach dem Sozialatlas ausgewiesenen Stadtteilen mit den ärmsten Bevölkerungsstrukturen seit vielen Jahren besonders viel Geld für Silvesterknallerei ausgegeben wird. Weder meine Eltern noch meine Großeltern hätten sich das alles leisten können. Aber sie hatten auch ihre Grenzen gekannt sowie ihren Lebenssinn anders definiert. Damals war’s, und ich gebe zu, dass mir im Vergleich zur heutigen Zeit die Silvesterfeiern früher gesitteter und angenehmer erschienen.
Arvid Kappelt