Vor rund drei Jahren hielt Bundespräsident Steinmeier anlässlich des
30. Jahrestags der Deutschen Einheit eine Rede und sagte u.a.: „Ja, wir leben heute in dem besten Deutschland, das es jemals gegeben hat.“ Dieser Wahrnehmung konnte und kann man sich evtl. immer noch anschließen, muss es aber nicht.
Es lohnt jedoch, für eine Bewertung dieser Aussage sich die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vom 24. Mai 1989 anlässlich des vierzigsten Jahrestags des Inkrafttretens des Grundgesetzes in Erinnerung zu rufen. Hier einige Passagen aus seinen Ausführungen: „Der Rechtsstaat wurde zur Rechtsgemeinschaft, zur Einrichtung der Bürger füreinander. Auf das Verlangen der Menschen nach gesicherter Freiheit gab das Grundgesetz überzeugende Antworten. (…) Der demokratische Rechtsstaat (…) schärfte (…) unser Bewußtsein dafür, daß Recht Recht bleiben muß, daß Verbrechen Strafe fordert, daß aber auch Recht menschliches Recht ist und menschlich angewandt werden muß. (…) Die Verfassung ist weder Orakel noch Motor der gesellschaftlichen Entwicklung. Sie lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen oder erneuern kann. Dazu gehören auch die allgemeinen ethischen Überzeugungen. (…) „Die Verfassung (…) ist wehrhaft und wertehaft angelegt, aber sie ist kein ewig sprudelnder Wertebrunnen für ethische Dürrezeiten. (…) „Wir haben eine gute Verfassung. Aber es wäre doch eine oberflächliche Feierlichkeit ohne die ernsthafte Frage an uns: Sind wir in einer guten Verfassung?“
Von Weizsäcker hatte uns Leitgedanken für eine bestimmte Vorstellung zum Verständnis dieser zentralen Äußerung gegeben. Und die war mit der benannten Frage des Führens in allen denkbaren Gebieten verknüpft. Insbesondere in den Bereichen unserer Teilgewalten sowohl in vertikaler als auch in horizontaler Ebene müssen sich die Verantwortlichen stets die Frage stellen, ob wir noch in einer guten Verfassung sind. Und hierzu gehören erst recht die Mitglieder der fünf Verfassungsorgane: Bundespräsident, Bundestagspräsident (Genus, nicht Sexus), Bundesregierung, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht. Stimmen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit noch überein oder ist aktuell eine Kluft zu realisieren, die nicht mehr hinnehmbar ist?
Lösungsorientiertes Handeln beginnt mit der richtigen Fragestellung sowie dem Aussprechen der Dinge, die sich real ereignen. Führung kann nur gelingen, wenn weder dramatisiert noch beschönigt wird.
Thomas Willi Völzke