Mehr Kuhnert wagen

– Erinnerungen an einen außergewöhnlichen Vorgesetzten von Thomas Willi Völzke, Polizeibeamter i. R. –

In meinen über 43 Berufsjahren hatte ich, wie anders wohl kaum zu erwarten, viele Vorgesetzte. Der Beste von ihnen war Manfred Kuhnert. Er leitete eine Dienststelle mit knapp 70 Beamten und gehörte dem gehobenen Dienst in der Besoldungsgruppe A13 an. Er verkörperte das Berufsbeamtentum im positiven Sinne, wie man es sich nicht besser vorstellen konnte. Herr Kuhnert war kulturell gebildet, hatte ein großes Allgemeinwissen und war belesen, wobei sein Spezialgebiet die Verhaltensforschung war. Wenn er anfing, aus den Beobachtungen bzw. Erkenntnissen u. a. von Konrad Lorenz, Desmond Morris und Irenäus Eibl-Eibesfeldt zu berichten, hatte er immer interessierte Zuhörer. Er schaffte es, seine Erklärungen einzubinden in Aspekte, die unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben betreffen, die individuelle Bedeutung für uns haben und die auch für die Führungslehre elementar sein können. Auf Bücher zur Führungslehre, die Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre Konjunktur hatten, verzichtete Herr Kuhnert hingegen.

Auf der von ihm geleiteten Dienststelle war ein extrem geringer Krankenstand zu verzeichnen. Innerhalb der Kollegenschaft herrschte ein hohes Maß an Zufriedenheit und Identifikation mit den Aufgaben. Herr Kuhnert genoss Wertschätzung. Die Personalplanung war von ihm ausgesprochen durchdacht. Er verabscheute es, wenn Beamte Positionen inne hatten, die sie fachlich und menschlich nicht ausfüllen konnten. Mit seiner genauen Vorgangsdurchsicht war er gut im Bilde darüber, was und wie die Mitarbeiter leisteten. Aus dem Stehgreif konnte er zu jedem seiner Beamten etwas sagen, und das einfach aus seiner Pflichtenwahrnehmung als Dienststellenleiter heraus, seinem Interesse für die Kollegen und den daraus resultierenden Kontakten zu ihnen.

Die Herrn Kuhnert entgegengebrachte Achtung war allerdings in anderen Ebenen so nicht durchgängig erkennbar. Mit seiner intellektuellen und sprachlichen Prägnanz zeigte er einigen Mitarbeitern auch des höheren Dienstes deren kognitive Grenzen auf. In einem Fall des Schusswaffengebrauchs eines Beamten seiner Dienststelle, glücklicherweise ohne Personenschaden, kam die Behördenleitung in ihrer fachlichen Bewertung zu einem Ergebnis zu Lasten des Schützen. Kuhnert widersprach den Ausführungen hochbesoldeter Mitarbeiter des Stabs in deren Gutachten vehement, und das unter anderem mit stichhaltigen Hinweisen auf die entsprechende Ausführungsvorschrift zum Zwangsgesetz. Er stellte sich schützend vor den Beamten seiner Dienststelle. Er zeigte mir einmal seinen Schriftwechsel mit der Behördenführung; es war ein Lesegenuss. Recht und Gesetz wurden von ihm präzise ausgelegt.

Ich kam im Herbst 1991 zu seiner Dienststelle. Im Mai 1993 wurde er pensioniert. Ich hielt den Kontakt zu meinem ehemaligen Vorgesetzten aufrecht. Viele Themen insbesondere aus dem behördlichen Leben wurden von uns analysiert. Seine Führungsphilosophie erschloss sich mir immer mehr. Dabei ist mir eine seiner Aussagen bis heute besonders im Gedächtnis geblieben: „Allein um der Sache willen hätte ich mich mit so ziemlich jedem verbündet, sogar mit dem Teufel.“

Anfangs war ich verwundert über diese Äußerung, zumal ich seine Ansichten über einige Kollegen aus anderen Führungsebenen kannte. Die Tiefgründigkeit seiner Erklärung wurde mir jedoch von Jahr zu Jahr bewusster. Befindlichkeiten, Vorurteile, das Wissen über die Uninformiertheit oder mangelnde Auffassungsgabe von anderen oder deren Ansichten über behördliche oder gesellschaftliche Vorgänge durften nicht zur generellen Ablehnung von Dialogen bzw. Diskussionen und von dem gemeinsamen Suchen nach Lösungen führen. Ein zementiertes Bündnis quasi als einen generellen Pakt mit dem Teufel vermied er hingegen.

Kuhnert kochte innerlich, wenn andere Beamte notwendige Dinge oder Vorschläge mit einer gewissen Ignoranz übergingen oder deren Bedeutung nicht erkannten. Insofern hatte er zu einigen Mitarbeitern eine innere Distanz, hütete sich aber davor, diese in den Gesprächen, seinen Handlungen und Entscheidungen zu verlautbaren. Es prägte ihn eine nüchterne Sachlichkeit, die ich in der Form bei keinem anderen Vorgesetzten erlebt hatte. Er hatte einfach Größe. Und er lebte es vor, Sachverhalte gründlich und möglichst aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten.

Obwohl Manfred Kuhnert schon viele Jahre tot ist, muss ich noch oft an ihn denken. Dabei stelle ich mir unter anderem vor, wie er heute das Geschehen in Deutschland bewerten würde: Corona-Krise einschließlich der Rollen von Legislative, Exekutive sowie Legislative, öffentliche Diffamierungen von Menschen, Massenpsychosen, Manipulationstechniken, Entwicklungen im Bildungswesen, Nachrichten, politische Zerfallsprozesse, Migration, Verfettung in der Gesellschaft, Führungsverhalten von unserem politischen Personal einschließlich substanzloser Aussagen uvm. Und wie würde er sich zu der sogenannten Brandmauer einschließlich der Verpflichtung für die Menschen aus dem eigenen Lager, sich an ihr gefälligst strikt zu halten, äußern?

Allein um der Sache willen hätte Herr Kuhnert zur Not auch mit dem Teufel kommuniziert und um Lösungen gerungen. Unabhängig davon machte er sich aber vorher selbst ein Bild davon, ob diabolische Eigenschaften beim Gegenüber real vorhanden waren oder ob diesem nur ein schlechter Ruf vorausging. Er prüfte eben gewissenhaft und verschloss sich keinem Menschen. Wir müssen mehr Kuhnert wagen.

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